hempel-bildmaschine.de       I
BILDMASCHINE
Roland Nachtigäller 
Plastik hören

Wenn man eine grüne Friedhofsvase, an deren Ende eine Nähnadel festgeklebt ist, mit einer dünnen Gardinenstange über den Boden einer verlassenen Werkshalle hinter sich herzieht, dann – besitzt das einen durchaus absurden Charme. Aber was geschieht da? Zu hören ist kein lärmendes, polterndes Scheppern, sondern eine knarzend leiernde Melodie wie aus einem Grammophon der 1920er Jahre. „When the Saints go marching in“ ist als Tonspur auf dem Boden des Dresdner Heizkraftwerks Mitte angelegt, eingeschrieben in eine schmale PVC-Bahn nach dem alten Schellackplatten-Prinzip, während die Räume dieser morbiden Industriearchitektur vor allem von einem großen Auszug erzählen.
Sebastian Hempel hat mit seiner einfachen wie im wörtlichen Sinne weitläufigen Installation für die Ausstellung „holy things – holy places“ 2011 eine verblüffend komplexe Reminiszenz an die Geschichte der akustischen Aufzeichnungssysteme realisiert. Sie verbindet die Fragen nach Erinnerung und Zukunft, nach Präsenz und Abwesenheit auf ebenso spielerische wie hintergründige Weise mit dem historischen Ort und stellt sich zugleich in die künstlerische Tradition der „armen Materialien“.
Woher rührt dieses technische „Downgrading“? Im Zeitalter der vollständigen Digitalisierung von Informationen, der Komprimierung und Reduzierung von Tönen und Bildern auf möglichst platzsparende und damit rasch zu übermittelnde Algorithmen mutet es seltsam anachronistisch an, Sprach- und Musikaufzeichnungen plötzlich wieder mit mechanischen Instrumenten zu aktivieren. Zugleich aber tritt hier – wie derzeit in ganz verschiedenen Zusammenhängen auffällig (man denke nur an die große Renaissance des analogen Films und seiner knatternden Vorführgeräte im Ausstellungsraum!) – angesichts einer grundlegenden Entkörperlichung von Erfahrungswerten ein veränderter Umgang mit dem Gut Information und damit auch mit den Wegen der Informationsaufnahme, der Wissensproduktion zutage. Will man hier etwas erfahren, hören, muss man aktiv werden, den simpel gebauten und daher in seiner Funktionsweise völlig offensichtlichen Tonarm zur Hand nehmen und ihn mit einem zu erarbeitenden Maß für die richtige Geschwindigkeit durch die gravierte Tonspur ziehen.
Dann erst enthüllt sich das künstlerische Anliegen in Bezug auf die gegebene Örtlichkeit vollständig. Der Raum füllt sich mit einem Lied, während sich der Akteur in seiner Bewegung gleichzeitig den Raum aneignet, ihn durchmisst und mit seinen Sinnen erfährt. Während die Bewegung in der Zeit nach vorne weist, eröffnet sich im Raum der Blick zurück. Rekurriert der Liedtext auf die zukünftige Eroberung eines imaginären Ortes (Einmarsch der Heiligen), so beziehen sich die verwendete mechanisch-akustische Wiedergabetechnik und das bröckelnde Ambiente des Gebäudes auf die Vergangenheit (Auszug der Arbeiter). Erinnerung bindet sich durch individuelle Handlung fest an einen Raum, die Flüchtigkeit von Zeit wird an die Beständigkeit einer (imaginierten) räumlichen Struktur gebunden, Gedächtnis wird zur Topografie.
Und ein weiterer Aspekt dieser Installation von Sebastian Hempel tritt hinzu: Die Tonspur im PVC-Material ist noch wesentlich weniger haltbar als jene der Schellackplatten (ganz zu schweigen von den späteren, nun langsam auch aussterbenden Vinylschallplatten), vor allem aber ist der Tonabnehmer trotz aller mechanischer Raffinesse ein äußerst rüder Geselle: Bei jedem Abtasten des mit einer einfachen Aufzeichnungsmaschine gravierten Tonträgers fräst die tonabnehmende Nähnadel eine weitere Schicht aus der gebirgigen Rille im weichen PVC-Material heraus. So verschwindet die Melodie mit jedem Hören langsam in der Ferne eines medialen Rauschens, gleich so wie die Erinnerung an die Geschichte des Ortes langsam verblasst. Das Medium frisst sich selbst und die Töne, Bilder und Erzählungen kehren unweigerlich zurück in die Verantwortung des unberechenbar erinnernden Gehirns.
Aber liegt in der fast sentimental erscheinenden Geste des menschengeführten Tonabnehmersystems nicht auch etwas höchst Absurdes? Besitzt das zu Anfang beschriebene Bild eines mit einem aberwitzigen Totem ausgestatteten Besuchers auf seinem unbeholfenen Gang durch die Industrieruine nicht auch etwas latent Böses, eine anarchische Subversion, wie der Treppenwitz einer längst untergegangenen Epoche? Bei aller empathischen Bezugnahme und technischen Ausgeklügeltheit schleicht sich in vielen Projekten von Sebastian Hempel auch eine ironische Distanz, die vor allem daher rührt, dass sich in technischen Apparaturen immer auch menschliche Bewegungsabläufe spiegeln und damit die Maschine sich zugleich als absurder Anachronismus präsentiert.
Bezeichnenderweise kann Sebastian Hempel aber auch ganz anders. So arbeiten seine kinetischen (Licht-)Objekte beispielsweise nicht nur mit einer ausgeklügelten Bewegungsmechanik und aktuellster Leuchtentechnik, sondern sie präsentieren sich auch mit einer perfekten, fast technoiden Oberfläche. Werke wie „Schattenwand“ (2009), „Display 5x5 Kreise“ (2010) oder „4x4 Lichtkreise (Bubbles)“ (2011) sind konsequent weiterentwickelte Wahrnehmungskatalysatoren in der Tradition von Op-Art und kinetischer Kunst der 1960er Jahre. Die Begegnung mit diesen eher distanzierten Lichtobjekten aber führt gerade erst über die Auseinandersetzung mit ihrer vermeintlich so direkten optischen Zugänglichkeit zum differenzierten Blick auf einen Künstler, der bei aller Vielseitigkeit im weitesten Sinne doch Bildhauer bleibt. Ausgebildet im väterlichen Steinmetzbetrieb, der sich bis heute – mittlerweile unter der Leitung seines Bruders – vor allem auf dem reichen Gebiet der historischen Gebäudeskulptur in Dresden verdient macht, studierte er an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden Bildhauerei. Auch wenn er dann relativ rasch seine große Faszination für motorbetriebene Apparaturen und Lichtphänomene in die künstlerische Entwicklung einbezog, so beschäftigt er sich bis heute maßgeblich mit räumlichen Prozessen, mit dreidimensionalen Wahrnehmungen und Staffelungen.
Bei genauerem Hinsehen nämlich stößt man in fast all seinen Objekten, Mechanismen und Installationen auf ein zartes Ruckeln in den erst so perfekt erscheinenden Bewegungsabläufen, auf Spuren eines ganz individuellen Kampfes mit den technischen Bedingungen, auf Selbstgebautes, Tüfteleien, Angestoßenes, die die Poesie der Fragilität und damit auch die Flüchtigkeit einer Perfektion unter der strahlend polierten Oberfläche augenzwinkernd verbergen. Gerade diese belassenen Spuren einer technischen Unvollkommenheit aber entreißen Hempels Arbeiten der schnellen Konsumierbarkeit des Design-Kontextes und überführen sie in ein raffiniertes Spiel von Schein und Sein, von manischer Suche und kühler Konstruktion. Die Überlagerungen und Bewegungen in Hempels Installationen stellen vor allem eine räumliche Staffelung und zugleich die fortwährende Veränderung in den Mittelpunkt der Rezeption, für die das Bild einer perfekten Wahrnehmungsmaschine gewollt unerreicht bleibt und gerade in den Brüchen dieser Installationen den menschlichen Faktor und das Gestaltbare von Welt aufscheinen lässt. In der handwerklichen Rückbindung der technischen Entwicklung liegt eben auch das Potenzial für Entdeckungen und Neueroberungen, das die Maschine aus dem Kreislauf ihrer permanenten Selbstwiederholung reißt.
Insofern sind die akustisch-mechanischen Untersuchungen von Sebastian Hempel nur die konsequente Fortschreibung dieses bildhauerischen Prozesses der räumlichen Auseinandersetzung mit den menschlichen Sinnen. Und der Rückgriff auf grundlegende technische Mechanismen und Konstruktionen ist dann gerade nicht von sentimentaler Sehnsucht nach sichtbaren Ursache-Wirkung-Schemata getrieben, sondern von einer Wiederaneignung einer technischen Entwicklersprache, die die Mechanismen zum Teil einer aktiven räumlichen Erfahrung macht. Die mit den eigenen Händen zum Klingen gebrachte Tonspur und das flüchtige akustische Ereignis verleihen dem Raum eine neue, schlüssige und Perspektiven eröffnende Struktur, in der der Betrachter zum aktiven Gestalter wird. Diese Struktur aber entwickelt sich zu einer imaginären Topografie, die den physischen Ort einbindet in den historischen Kontext geistesgeschichtlicher Entwicklungen.
Sebastian Hempels jüngstes Projekt „Skulptur kann man nicht sehen“ (2011), das als raffiniert konstruierte Katalog-Edition erscheint, nimmt aus dieser Perspektive geradezu eine Schlüsselstellung ein. Schon im Titel bringt er die zunehmende Entmaterialisierung der Skulptur auf den Punkt, verfeinert parallel dazu die technische Konstellation der mechanischen Tonproduktion und bindet die gesamte Arbeit unverbrüchlich ein in den kunsthistorischen Kontext des Beuys’schen Werkbegriffs. „Plastik kann man eigentlich gar nicht sehen, die kann man viel besser hören.“ ist ein Zitat von Joseph Beuys aus dem Umfeld seiner Aktion „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ (1965). Man kann es schon kaum noch als Spiel bezeichnen, wie Hempel in diesem Werk den Begriff der „Sozialen Plastik“ mit den Fragen der klassischen Bildhauerei und dem Assoziationsfeld der Kunststoffs verwebt (und zwar sowohl theoretisch als auch ganz materiell). Zugleich findet er über das Ephemere des (physischen und akustischen) Materials eine auch formal überzeugende Umsetzung. Der Leser, Hörer, Benutzer hält mit diesem Projekt alle Parameter für eine künstlerische Erfahrung in der Hand, bei der Zufall und Kalkül, Flüchtigkeit und Materialität, technisches Experiment und programmierte Zerstörung zu zentralen Aspekten werden. Wo ist dieser ebenso eigenwillige wie tiefgründige Satz von Joseph Beuys zu verorten? Im Nebel eines steten historischen Ereignisstrahls, tief in den digitalen Archiven des Internets, eingraviert in Hunderte ordinärer PVC-Platten, gar im Ohr des Zuhörers? Mehr als 45 Jahre nach den ebenso verstörenden wie wegweisenden Aktionen von Joseph Beuys erinnert Sebastian Hempel mit völlig anderen Mitteln, spielerisch, engagiert und auf der Höhe der Zeit an eine mehr denn je virulente Frage: Warum sollte Skulptur in erster Linie ein Phänomen der Sichtbarkeit sein?
 
© Roland Nachtigäller
Publikation: Plastik kann man nicht hören I 2011
Herausgeber: Galerie Baer, Dresden, D & Galerie von Bartha, Basel, CH